Gotthard Günther unterscheidet, im Anschluß an Hegel, vier Reflexionsstufen, die ich hier, durch eigene Überlegungen angereichert, reformuliere. Ich kürze "Reflexionsstufe" durch "R" mit der dahintergeschriebenen Ordnungszahl ab, also bedeutet "R0" Reflexionsstufe Null:
R0 - Unbewußtsein, keine Reflexion
Die Reflexionsstufe ist als R0, nullte R-Stufe, bezeichnet, weil hier noch keine Reflexion stattfindet. Das Thema des Denkens ist nur das Sein (die Objekte der Umwelt, Es) und das Subjekt (Ich) hat keine bewußte Erkenntnis darüber, daß es dieses Außen und das Denken darüber gibt. Faktisch ist die Differenz zwischen Ich und Umwelt vorhanden, aber es gibt kein Bewußtsein dieser Differenz. Das Modell der Welt ist subjektivisch, d.h. alles lebt und alle Geschehnisse (auch Naturereignisse) sind intentional. Das Leben ist wesentlich Schicksal.
Das Subjekt weiß, aber es weiß nicht, daß es weiß. Es hat Wissen über das Sein, aber kein Wissen von seinem Wissen, es reflektiert nicht, deshalb ist es unbewußt.
R1 - Seinsbewußtsein, Verstand, Reflexion auf das Sein (R0)
Hier wird erstmalig zwischen Sein und Bewußtsein, Innenwelt und Außenwelt, Subjekt und Objekt bewußt unterschieden. Das Thema dieser Stufe ist das Abbildverhältnis von Denken und Sein, von Innen- und Außenwelt, von Bewußtsein und abgebildetem Objekt. Hier wird reflektiert und der Gegenstand der Reflexion ist das Objekt, das Sein (R0). Das Subjekt hat nicht nur Wissen, sondern es hat Wissen von seinem Wissen. Von seinem Wissen zu wissen ist Selbstbewußtsein, welches hier faktisch vorhanden, aber noch nicht bewußt ist.
Diese Reflexionsstufe ist der Ort der klassischen, zweiwertigen (wahr, falsch) aristotelischen Logik, deren Gegenstand R0, d.h. die Objekte der Umwelt sind. Mit dem Instrumentarium der zweiwertigen Logik wird entschieden, ob eine Aussage über ein Objekt (z. B.: "Die Rose ist rot.") wahr oder falsch ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen Wissen und Glauben, denn die Wahrheit wird von Göttern oder anderen höheren Mächten garantiert.
Auf dieser Stufe ist sich das Lebewesen seines Wissens bewußt und hat deshalb Selbstbewußtsein (Wissen des Wissens), aber es hat kein Bewußtsein seines Selbstbewußtseins, ist sich nur des Seins bewußt, weil es nur über das Sein, nicht aber über das Selbstbewußtsein reflektiert.
Beispiel: Auf R0 weiß das Lebewesen, daß es Hunger hat, aber es weiß nicht, daß es von seinem Hunger weiß. Deshalb führt Hunger zum Essen - oder zum Verhungern, aber es ist unmöglich bewußt zu hungern, sich für das Hungern zu entscheiden. Auf R1 hingegen weiß das Lebewesen, daß es weiß, daß es Hunger hat - und kann sich deshalb zur Diät, d.h. zum reflektierten Umgang mit dem Hunger, entscheiden. Auf R0 ist die Befriedigung des gewußten Hungers Ziel und man kann entscheiden, wie man den Hunger stillt, aber nicht ob man den Hunger stillt.
R2.1 - Selbstbewußtsein, Vernunft, Reflexion auf R1
Der Gegenstand der Reflexion ist die Reflexion von R1 auf R0, d.h. die Reflexion auf die Reflexion des Bewußtseins auf das Sein. Das impliziert die Reflexion auf die zweiwertige Logik und damit stellen sich ganz neue Wahrheits- und Begründungsfragen.
Die primäre Frage ist nun nicht mehr, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, sondern: "Was ist Wahrheit?". Mit dieser Frage ist man aber mitten im Dschungel des Gestrüpps der Letztbegründungen und die Wahrheitsfrage, wird zu der Frage: Wie kann man Wahrheit begründen? Gibt es einen Gott? In der Philosophiegeschichte beginnt diese Stufe mit Descartes: Ich denke, also bin ich. Diese Frage reflektiert auf das Subjekt von R1 und deshalb wird hier das Selbstbewußtsein bewußt.
Reflektiertes Selbstbewußtsein ist Sinnbewußtsein. Sinnbewußtsein ist hier zwar vorhanden, aber nicht bewußt, d.h. der Sinn wird nicht reflektiert, reflektiert wird nur das Selbstbewußtsein, nicht das bewußte Selbstbewußtsein.
Beispiel: Auf R1 wird die Frage, ob der Hunger gestillt wird nach feststehenden Wahrheiten entschieden, z.B. nach den 10 Geboten, überlieferten Sitten und Gebräuchen oder der Anweisung von Autoritäten. Auf R2 werden alle diese Wahrheiten reflektiert - und verlieren damit ihre Wahrheit, werden kontingent (auch anders möglich).
R2.2 - die Unendlichkeit der Iterationen der Reflektion auf R1 (Iterationsbewußtsein)
Die Reflexion auf R1 erfolgt mittels Metaebenen, d.h. man reflektiert auf Logik mittels einer Metalogik, und jede Metaebene benötigt zu ihrer Begründung eine weitere Metaebene. Die Reflexion verfängt sich so in einer unendlichen Iteration. Diese Denkstufe erfuhr ihre volle Ausprägung mit der Entdeckung der Antinomien der Mengenlehre und der folgenden expliziten Einführung von Metaebenen und Metasprachen und dem Gödelschen Beweis, daß formale Systeme ausreichender Komplexität entweder unvollständig oder selbstwidersprüchlich sind.
Je mehr der Denkende versucht, sich selbst und die Welt zu bestimmen, desto mehr gehen Selbst und Welt in der Unendlichkeit der möglichen Bestimmungen verloren: das rasende Kreisen der Schlange, die sich immer nur in ihren eigenen Schwanz beißt.
R3 - Sinnbewußtsein, Reflexion auf R2.2
Der Gegenstand der Reflexion ist nicht R2.1, sondern die unendliche Iteration von R2.2, in der R2.1 sich verfängt: reflektiertes Sinnbewußtsein!
"Der Inhalt dieser neuen Reflexion ist also die Idee der Totalität der infiniten Folge der Iterationen (und nicht selbst eine Iteration, auf die andere folgen könnten)." (G. Günter).
Die Frage ist jetzt nicht mehr, wie Wahrheit begründet werden kann, sondern wie man den unendlichen Regreß der Metabegründungen überwinden kann. Diese Frage kann nur beantwortet werden, indem man über diesen unendlichen Regreß reflektiert, die Unendlichkeit der Iterationen zum Objekt der Reflektion macht.
Wer am Gegensatz des Endlichen und Unendlichen festhält, der hält am Endlichen selbst fest - und bleibt in den unendlichen Iterationen gefangen. Das Unendliche kann nicht der Gegensatz des Endlichen sein, weil sonst das Unendliche am Endlichen enden würde - und so eben nicht mehr unendlich, sondern nur ein größeres Endliches wäre. Das Unendliche ist nur dann unendlich, wenn das Endliche im Unendlichen enthalten ist.
Auf R3 ist erkannt, daß die Frage nach der Wahrheit und der Begründung der Wahrheit nur Teil eines größeren Ganzen ist. Das Wahre ist das gemachte und deshalb wird die Wahrheitsfrage in der Sinnfrage aufgehoben und die Sinnfrage ist die Frage nach einer angemessenen Gestaltung (machen!) des Selbst und des Seins, welche dadurch erst zu ihrem Sinn kommen. Sinnbewußtsein besteht somit nicht mehr in der Reflexion auf die Wahrheit des Seins oder des Selbst, sondern in der doppelten Reflexion auf den Sinn des Seins und den Sinn des Sinns.
Sinn be- und entsteht in der Reflexion auf das klassische Denken. Die klassische symmetrische Trennung zwischen Position und Negation, die letztlich in der Identität des Positiven beobachtet wird, ist dadurch aufgehoben. Es wird nicht mehr eine Identität, sondern die Differenz voneinander abhängiger Komponenten beobachtet und auf diese wird reflektiert.
Niklas Luhmann definiert Sinn als die Einheit der Differenz von Aktualität (dem Wirklichen) und Possibilität (dem Möglichen). Man reflektiert z.B. nicht mehr auf Wahrheit, sondern auf die Differenz Wahrheit/Irrtum, d.h. auf Sinn. Das ist etwas anderes als nur zu bestimmen, was wahr oder falsch ist (R1) oder zu bestimmen was Wahrheit (die Wahrheit der Wahrheit) ist (R2). Aus Identitäten ist Sinn nicht zu gewinnen. Sinn kann nur Differenzen abgerungen werden: Erst die Position, dann die Negation, dann die Aufhebung (in der dreifachen Bedeutung von Bewahren, Beenden und Hochheben) oder Rejektion (Zurückweisung) der ursprünglichen Differenz von Position und Negation.
Für R3 "gibt es kein absolut objektives Sein mehr, das unabhängig vom Denken beschreibbar wäre. Sein ist von jetzt ab nur noch operables Reflexionsmotiv innerhalb des Systembereichs der doppelten Reflexion" (G. Günther).
Ich und alle Du gemeinsam erschaffen Sinn, indem wir Sinn, damit uns selbst und letztlich die Welt gestalten.
Es ist essentiell zu begreifen, daß es keine absolute Wahrheit im klassischen Verständnis und keinen wahren Sinn oder wahren Willen geben kann. So zu denken wäre R2. Es ist genauso essentiell zu begreifen, daß auch die Annahme alles sei relativ, d.h. es gäbe keine absolute Wahrheit, ein Denken auf der Stufe R2 wäre. Sinnbewußtsein hat sowohl eine inhärente Notwendigkeit, die jede seiner Gestalten absolut wahr macht, wie auch eine inhärente Kontingenz (kontingent, d.h. auch anders möglich), die jede seiner Gestalten relativ, eben auf den individuellen Sinnprozeß, macht. Das Konzept des reinen Willens drückt diese Interdependenz aus:
- Thesis (Position): Als im Prozeß der Verwirklichung des reinen Willens befindlich ist jede der Gestalten des Sinnbewußtseins ein Moment der absoluten Wahrheit.
- Antithesis (Negation): Da dieser Prozeß aber immer ein individueller Sinnprozeß ist, ist jede seiner Gestalten kontingent und relativ zu dem jeweiligen individuellen Sinnprozeß.
- Synthesis (Aufhebung): Die kulturelle Evolution als Ganzheit ist die absolute Wahrheit, aber die individuellen Gestalten dieser Evolution sind kontingent.
Beispiel: Auf R 2.2 kann letztlich nicht entschieden werden, ob man seinen Hunger stillen oder lieber verhungern sollte, ob es besser ist zu leben oder sich umzubringen - also folgt man im allgemeinen dem Weg des geringsten Widerstandes und befriedigt seine Triebe. Auf R3 bekommt das Leben Sinn und damit Wert. Das Ich erkennt, erschafft und übernimmt seinen Zweck in der Gestaltung der sozialen Evolution und kann aus dieser Perspektive sichere Entscheidungen treffen: Ich stille meinen Hunger, um meinen Zweck zu erfüllen!
Es ist offensichtlich, daß die moderne Philosophie sich in den Schlingen von R.2.2 verfangen hat. Auf dieser Reflexionsstufe ist eine Lösung der Wahrheits- und Begründungsprobleme unmöglich. Der strukturelle Grund dafür liegt in der zweiwertigen Logik und der von dieser implizierten Seinslehre (Ontologie), denn in R2 wird immer noch im Rahmen der zweiwertigen Logik gedacht.
Von R2.2 aus gibt es drei Wege
- Man kann an dem Problem der unendlichen Iteration verzweifeln und seine Rettung resignierend in einem Rückgang auf R1 suchen, z.B. indem man sich als Hexe, Germane oder Schamane stilisiert.
- Man kann das Problem verewigen, indem man auf dieser Ebene bleibt und verzweifelt oder sich als zynischer Intellektueller präsentiert.
- Man kann die Herausforderung annehmen und versuchen, unter denkerischen Mühen und körperlichen Plagen die psychosomatische Erleuchtung R3 zu gewinnen.
Welche Lösung man wählt, ist eine Frage ... intellektueller Redlichkeit.
Die Postulate der ontischen Identitätslogik
- Der Satz der Identität: Alles ist mit sich identisch und verschieden von anderem: A = A. Wenn jemand ein Mann ist dann ist er ein Mann - und weder Frau noch Kind und unveränderlich genau dieser Mann.
- Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch: von zwei sich widersprechenden Aussagen kann nur eine wahr sein: nicht(A und nicht-A) : ((Albert ist 12 Jahre alt) und (Albert ist 30 Jahre alt)) ist falsch, nur eine der beiden Aussagen kann wahr sein.
- Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: von zwei Sätzen, von denen einer das vollständige Gegenteil des anderen aussagt, muß einer wahr sein, entweder A oder nicht-A, aber kein Drittes. Entweder Albert ist ein Christ oder Albert ist ein Nicht-Christ.
- Der Satz vom zureichenden Grund: Alles hat einen Grund, warum es so ist, wie es ist, z.B. das Universum ist entstanden, weil Gott es erschaffen hat.
Die Postulate der meontischen Sinnlogik
Vgl. die R-Stufen! Beachte, daß Sinn das ist, was etwas nicht objektiv, also unabhängig vom Beobachter wie bei der Identitätslogik, sondern für uns, also für einen Beobachter, ist. Wenn das klar ist, dann kann man statt "Der Sinn eines Phänomens ist" korrekterweise einfach sagen "Alles ist":
- Der Satz vom reflektierten Gegensinn: Der Sinn eines Phänomens ist der Unterschied zwischen dem was etwas ist und dem was es nicht ist: A = A/-A ("/" steht für Differenz)
- Der Satz der thematischen Inversion: Der Sinn eines Phänomen kann nur als sein Gegensatz gedacht werden. A = -A
- Der Satz der infiniten Reflexionsfolgen: Die Reflexion der Einheit (B) des Unterschiedenen (A/-A) muß auf einer höheren Reflexionsebene erfolgen. Bi+1 = (A/ -A)i
- Der Satz vom transfiniten Ursprung: Sinn-Wahrheit ist die adäquate Abbildung des Selbstbewußtseins, welches das Begreifen der infiniten Reflexionsfolge ist.
... und schon kann es losgehen: reflektiere auf das Unendliche ...