Wenn man in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine Gruppe Menschen ächten will gibt es ein unfehlbares Mittel: Man bezeichnet diese Gruppe als Sekte, wahlweise: Jugend-, Psycho- oder Satanisten-Sekte. Sobald die Massenmedien diese Bezeichnung übernommen haben und veröffentlichen, ist das Spiel gelaufen. Von Stund an bekommen die Mitglieder dieser Gruppe keinen Arbeitsplatz und kein Bankkonto mehr, haben Prozesse schon vor dem ersten Prozeßtag verloren und sind Freiwild für jeden durchgedrehten Journalisten.
Ob eine Gruppe eine Sekte ist wird entweder per Freistil oder mit Checklisten, sogenannten Sektenfragebögen, entschieden. Da Freistil völlig willkürlich, Fragebögen jedoch evaluierbar sind, orientieren wir uns an letzteren.
Es gibt sehr viele Sektenfragebögen. Eines haben alle gemeinsam: Die "Sekte" sind immer die Anderen, deshalb basieren alle diese Fragebögen auf der Weltanschauung des Herstellers des Fragebogens. Was durch diese Fragebögen herausgefunden wird, ist: Stimmt der Glaube der "Sekte" mit dem Glauben der Hersteller des Fragebogens überein.
Alle Fragebögen dieser Art sind selbst weltanschaulich infiziert, denn die Kriterien basieren auf der Weltanschauung der Verfasser. So wird z.B. oft behauptet, daß es für die Gefährlichkeit einer Gruppe spricht, wenn sie das wissenschaftliche Weltbild zugunsten höherer Erkenntnisse ablehnt - aber das trifft auf jede Religion zu und beweist Gefährlichkeit nur aus der Sicht eines seinerseits gefährlichen Wissenschaftsfundamentalismus.
Die folgende Checkliste geht anders vor. Sie bietet anhand von Kriterien, Symptomen und Indizien erste Hilfe für die Beurteilung einer Weltanschauung (Religion, Sekte, soziale Bewegung, etc.) am Maßstab des Fundamentalismus - und legt die leitenden Prämissen offen.
Jeder Fundamentalismus ist abzulehnen,
weil er die Selbstbestimmung der Menschen be- oder sogar verhindert.
Die Prämissen dieser Checkliste sind:
- Wahrheitsprämisse: Es gibt für Menschen keine absolute Wahrheit. (Absolute Wahrheiten sind alle Behauptungen, welche die Möglichkeit eines Irrtums ausschließen.)
- Irrtumsprämisse: Jeder Mensch ist fehlbar, jeder Mensch kann irren.
- Kritikprämisse: Jede Behauptung ist kritisierbar und darf kritisiert werden. (Kritisches Denken, Argumentieren und Experimentieren kann Fehler der eigenen Überzeugungen aufdecken.)
- Freiheitsprämisse: Niemand hat das Recht, die Denk-, Rede- und Handlungsfreiheit eines Menschen gewaltsam einzuschränken oder zu behindern. (Daraus folgt, daß niemand das Recht hat, einem anderen Menschen eine Weltanschauung vorzuschreiben.)
Davon ausgehend ist eine Weltanschauung fundamentalistisch, wenn eines der folgenden vier Kriterien zutrifft:
- Wahrheit: Es wird behauptet, im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein. Auch die Behauptung, es gibt keine Wahrheit, ist eine - wenngleich selbstwidersprüchliche - absolute Wahrheit.
- Glaube: Es wird verlangt, daß an den Wahrheitsanspruch und die Wahrheit bestimmter Behauptungen oder einen "unfehlbaren" bzw. "erleuchteten Führer" geglaubt wird.
- Kritik: Kritische Diskussionen des Wahrheitsanspruchs oder des Wahrheitsinhalts der "offiziellen Lehre" oder bestimmter Behauptungen werden behindert, abgelehnt oder sanktioniert. Das betrifft sowohl argumentative Kritik, wie auch künstlerische Infragegestellung, Satire und Witze.
- Gewalt: Es wird Gewalt gegen Andersdenkende gefordert, befürwortet oder geduldet.
Weltanschauungen, Gruppen oder Behauptungen, auf die auch nur ein einziger dieser Punkte zutrifft, sind fundamentalistisch.
Da die o.g. Kriterien, insbesondere in der Anwerbungsphase, nicht immer klar erkennbar sind, kann man sich an folgenden Symptomen orientieren:
- Einfachheit: Die Weltanschauung ist verblüffend einfach und löst alle Probleme. Beispiele: Glaube nur an Gott und Du bist gerettet. Lebe einfach im Hier und Jetzt.
- Guruismus: Die Weltanschauung hat einen Meister, Führer, Vater, Guru oder Vordenker, der allein im Besitz der ganzen Wahrheit ist oder entsprechend verehrt wird.
- Katastrophe: Es wird behauptet, die Welt treibe auf eine Katastrophe zu und nur diese Weltanschauung ist die Rettung.
- Emotionalismus: Kritisch-rationales Fragen oder Denken wird als "Verkopfung", negativ, satanisch, unerleuchtet etc. abgelehnt, die Wahrheit müsse "mit dem Herzen" oder "intuitiv" erfaßt werden.
- Feinde: Andere Weltanschauungen werden als satanisch verteufelt, ihre Anhänger als "Ungläubige" angefeindet.
- Rettung: Es wird behauptet, daß es Rettung, das Heil oder Erlösung nur in dieser Weltanschauung, Kirche oder Religion gäbe. (Das ist abzugrenzen von erfolgreichen Methoden die jeder, mit der entsprechenden Ausbildung, anwenden kann.)
Keines der folgenden Indizien kann für sich allein Fundamentalismus beweisen, aber je mehr davon auf eine Gruppe zutreffen, desto stärker der Verdacht:
- Kritik und Ablehnung durch Außenstehende werden als Beweis dafür angeführt, daß die Weltanschauung wahr ist.
- Es wird verlangt, aus welchen Gründen auch immer, daß alle bestehenden Beziehungen (Verwandtschaft, Wohngemeinschaft, Freundschaften) abgebrochen werden.
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Die Gruppe grenzt sich von der übrigen Welt ab, z.B. durch
- Kleidung
- Ernährungsvorschriften
- eine eigene Gruppensprache oder
- Reglementierung von zwischenmenschlichen Beziehungen.
- Die Gruppe verlangt die strikte Befolgung von Verhaltens-Regeln, die nicht diskutiert oder nicht geändert werden dürfen.
- Es erfolgt eine Überwachung durch einen Vertreter der Gruppe, z.B. durch ständige Anwesenheit oder Begleitung.
Wenn die hier vorgelegten Prämissen, Kriterien, Symptome und Indizien für Dich plausibel sind, kannst Du danach selbst entscheiden, ob oder inwieweit eine Gruppe, Kirche oder sonstige Organisation fundamentalistisch ist.