"... den Mythos der Zukunft dichten", ein Wort von Friedrich Nietzsche, welches die Leitidee dieses Essays ist. Was kann es bedeuten: "... den Mythos der Zukunft dichten"?
Eine erste Annäherung mag ein Zitat aus dem Nietzsche-Buch des Theologen Georg Picht bringen:
"Seit Nietzsche ist jedes Denken reaktionär, das nicht das gesamte Leben dessen, der denkt, als ein Experiment des Erkennenden, als ein sich entwerfen in die zukünftigen Möglichkeiten der menschlichen Geschichte, zu vollbringen wagt."
Picht sagt also, daß der Mensch mit sich selbst experimentieren muß. Genauer: Jeder Mensch soll für sich die zukünftigen Möglichkeiten der menschlichen Geschichte entwerfen. Aber nicht nur das: Er soll sein gesamtes Leben im Vollbringen dieser Entwürfe verwirklichen, sich selbst als zukünftige Geschichte erschaffen. Und weiter: Jeder, der nicht so denkt ist "reaktionär" - ein starkes Wort.
Nietzsche hat es kürzer formuliert:
"... es ist die Zukunft, die unserem Heute die Regel gibt."
Wie kann die Zukunft dem Heute die Regel geben? Also die Gegenwart bestimmen? Nietzsche sagt: "... es ist die Zukunft, die unserem Heute die Regel gibt." Die Zukunft schreibt uns also vor, wie wir heute handeln. Stellt das nicht alles auf den Kopf, was wir von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wissen?
In Anlehnung an Kant können wir dieses Nietzsche-Zitat wie folgt umformulieren:
Die Bedingung der Möglichkeit gegenwärtigen Handelns
ist die Zukunft.
Damit wird die ganze Ungeheuerlichkeit dieser Behauptung noch deutlicher: Die Bedingung der Möglichkeit des gegenwärtigen Handelns ist die Zukunft, denn die Zukunft erst gibt uns die Regeln, nach denen wir heute handeln können.
Aber die Zukunft gibt es noch nicht. Also kann sie unserem gegenwärtigen Handeln keine Regeln geben. Wie können wir dann jemals im Hier und Jetzt handeln? Wenden wir uns an den Logiker, an Charles Sanders Peirce, er äußert sich eindeutig:
"Die Art und Weise, in der Geist auf Materie wirkt, besteht darin, daß er ihr die Übereinstimmung mit bestimmten besonderen Gesetzen auferlegt, die Zwecke genannt werden, und die Art der Reaktion besteht darin, daß die Zwecke selbst verändert und entwickelt werden, indem man sie ausführt. Die logische Analyse zeigt, daß es wesentlich für die Natur der Darstellung ist, daß sie sich selbst dadurch entwickelt, daß sie der Materie Zwecke auferlegt."
Zwecke (Ziele) sind in der gegenwärtigen Gegenwart angestrebte Zustände, die in einer zukünftigen Gegenwart Wirklichkeit sein sollen. Man beschließt beispielsweise heute, sein Studium in drei Jahren erfolgreich beendet zu haben. Um Zwecke zu verwirklichen, muß man heute so handeln, daß künftig der angestrebte Zustand eintreten kann. Deshalb gibt der Zweck, also der zukünftige Zustand, dem Heute die Regeln des Handelns. Diese Regeln können nur aus zukünftigen Gegenwarten gewonnen werden.
Die Zukunft, welche unserem Heute die Regel gibt, ist also ein Zweck in der gegenwärtigen Gegenwart, der auf eine künftige Gegenwart abzielt und dadurch das Handeln in der gegenwärtigen Gegenwart bestimmt. Wie kommt man nun zu einem Zweck?
Man kommt zu einem Zweck, indem man sich einen zukünftigen Zustand ausdenkt - oder, wie Nietzsche sagt, erdichtet. Die großen Menschheitszwecke sind das, was Nietzsche die Mythen der Zukunft nennt. Ein Neues Äon, das Eschaton (die Erlösung am Ende aller Zeiten), der Kommunismus, das Jüngste Gericht, der Sinn Deines Lebens, das alles sind große Mythen der Zukunft (aber natürlich gibt es auch kleine Mythen).
Nun haben einige dieser Mythen einen entscheidenden Nachteil: Sie stellen sich als das Ende aller Geschichte dar. Es sind ausgedachte Idealzustände, nach denen keine weitere Steigerung möglich sein soll. Die Zukunft ist damit zu Ende. Ich hatte in "Die Utopie der offenen Zukunft" schon festgestellt, daß solche Visionen einer geschlossenen Zukunft, d.h. eines endgültigen Glückszustandes für alle Menschen, unhaltbar sind. Vertretbar sind nur Visionen einer offenen Zukunft.
Die Vision einer offenen Zukunft ist z.B. die Vision eines Neuen Äons, denn dieses begreift sich lediglich als Nachfolger eines vergangenen und als Vorgänger eines folgenden Äons. Wir könnten also daran denken, ein Neues Äon zu erschaffen. Wenn wir den Mythos eines Neuen Äons erdichten, dann ist das Neue Äon die Zukunft, die unserem Heute die Regel gibt. Das ist ungeheuer wichtig: Dann, und nur dann, wenn wir den Mythos eines Neuen Äons erdichten, kann das Neue Äon die Zukunft, die unserem Heute die Regel gibt, sein - und nur dann werden wir das Neue Äon verwirklichen können!
Wie Peirce in obigem Zitat feststellt, ist es ein notwendiges Element jeder Darstellung, daß sie sich durch Zwecke entwickelt. In der Peirceschen Terminologie ist jeder Mensch eine Darstellung (Zeichen, Symbol).
Einen Menschen ganz ohne Zwecke (Absichten) gibt es nicht - um das zu verstehen, muß man kein Logiker sein - die alltägliche Beobachtung zeigt es. Wenn wir unter dem Begriff "Mensch" ein Lebewesen verstehen, welches sich von Tieren unterscheidet, dann kann der Unterschied nur darin liegen, daß Menschen es sind, welche der Geschichte Zwecke auferlegen, d.h. Menschen dichten den Mythos der Zukunft.
Diese Erkenntnis ist zugleich Hoffnung und Gefahr, denn der Mensch kann sowohl seinen Untergang als auch seinen Aufgang - oder auch beides, den Untergang um aufzugehen - erträumen und erdichten. Mit unseren Träumen erschaffen wir im wahrsten Sinne des Wortes unsere Zukunft und mit unseren selbsterdichteten Mythen der Zukunft bestimmen wir jeweils und immer unser Hier und Jetzt.
Der Mensch als geistiges Wesen ist unfähig, anders als mit Absichten zu handeln - mit unabsichtlichem Verhalten würde er nur vegetieren und sich als Mensch zerstören. Der Mensch ist konstitutionell gezwungen, durch seinen Mythos der Zukunft seine Gegenwart zu bestimmen. Es ist kein Zufall, wenn der Mensch verroht und vertiert, wenn sein - auch ein Wort Nietzsches - "Kinderland der Zukunft" zerbricht, wenn er keine Hoffnung mehr hat. Nur im Zweck entwirft der Mensch seine eigene Möglichkeit.
Dies ist es, was wir als allererstes und wichtigstes dem Nietzschewort entnehmen:
Der Mythos der Zukunft, der Zweck,
ist die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Lebens und
menschlichen Glücks!
"... es ist die Zukunft, die unserem Heute die Regel gibt."
Die Welt wird notwendig in eine neues Äon übergehen, die Geschichte zeigt das. Wie aber das Neue Äon aussehen wird und ob wir Menschen, Du und Ich, das Neue Äon verwirklichen werden, darüber entscheiden Menschen, entscheidest Du selbst - indem Du den Mythos des Neuen Äons erdichtest!
Nietzsche definierte den "Willen zur Macht" als den Willen zur Verwirklichung des Mythos der Zukunft. Dieser Wille ist dann nicht nur ein privater schwacher Wille, sondern er wird bestimmt durch die Zukunft, die diesem Willen die Regel gibt.
Die nächste Epoche der Menschheit ist das Neue Äon. Unsere Aufgabe ist es, den Mythos des Neuen Äons zu erschaffen, zu erträumen, zu erdichten, zu singen, zu tanzen und zu lieben - um dann dieser Mythos zu werden. Beachten wir auch, daß ein Leben, welches die Feste der Zukunft feiert, nicht nur über die Zukunft nachdenkt, sondern notwendig schon der Vollzug dieser Zukunft ist. Mit dem Erdichten des Mythos vollziehen wir schon Mythos - und auch diesem Zusammenhang können wir unmöglich entkommen.
Machiavelli hat diese Erkenntnis formuliert: "Wer nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was wirklich geschieht, der ruiniert seine Existenz."
Menschen, die immer nur in dem leben, was sein sollte, nicht in dem, was faktisch ist, nennt man: Traumtänzer! nennt man: Hans guck in die Luft ... und fall in die Grube. Den Mythos der Zukunft erdichten hat nichts mit Traumtanz oder Wirklichkeitsverlust zu tun - wenn man es richtig versteht. Ein Zweck ist kein Projekt, das in ferner Zukunft verwirklicht wird:
Die Verwirklichung eines Zwecks beginnt im Hier und Jetzt.
Wenn wir ein Element der Vision des Neuen Äons auswählen, wird deutlicher werden, was das heißt. Neues Äon bedeutet - zumindest bedeutete es das bisher in der gesamten Geschichte der Menschheit - unter anderem die Verwirklichung von mehr Freiheit. Das ist kein Projekt, welches in ferner Zukunft verwirklicht wird: Die Freiheit ist ein Ideal, das hier und jetzt zusammen mit allen anderen Menschen, die den Mythos der Zukunft träumen, erkämpft werden muß.
Indem wir den Mythos der Zukunft erdichten, erschaffen wir die Zukunft. Erschaffen der Zukunft ist das Hervorbringen der Zeit. Es ist das Hervorbringen der Zeit, in der wir leben, unserer Lebenszeit.
Indem wir den Mythos der Zukunft erschaffen, vollziehen wir Zukunft. Eine Zukunft, die nicht vollzogen wird, ist keine Zukunft, sondern ein hohles Gebilde des Wahns. Deshalb realisieren wir Freiheit hier und jetzt - während wir den Mythos des Neuen Äons erdichten!
Wenn wir den Mythos der Zukunft dichten,
erschaffen wir die Zukunft,
indem wir die Gegenwart verändern.
Woher bekommen wir nun diesen Mythos? Er kann nicht allein vom Kopf, muß viel mehr aus dem Herzen erschaffen werden. Wie kann man Regeln aus dem Herzen heraus beweisen oder ableiten? Darauf gibt Blaise Pascal eine Antwort:
"Das Herz hat seine Ordnung, der Geist hat die seine, die auf Prinzip und Demonstration beruht. Das Herz hat eine andere. Man beweist nicht, daß man geliebt werden muß, indem man ordnungsgemäß die Ursachen der Liebe darstellt ...
Diese Ordnung besteht vor allem in der Abschweifung über jeden Punkt, der zu dem Ziel Beziehung hat, um es stets zu zeigen."
Nun, der erste Punkt, daß man Liebe nicht durch logische Beweisverfahren plausibel macht, dürfte einsichtig sein. Aber was meint Pascal mit der Methode der Abschweifung? Er sagt ja, daß die Herz-Ordnung vor allem in der Abschweifung besteht, in der Abschweifung über jeden Punkt, der zu dem Ziel eine Beziehung hat, um dieses Ziel stets zu zeigen. Jeder kennt zwar sicher einige Mitmenschen, deren Rede sich durch Abschweifung vom Thema kennzeichnet - aber das wird Pascal wohl kaum gemeint haben. Das Ziel wird ja nach seiner Aussage stets gezeigt. Was meint er also?
Die Herz-Ordnung wird sichtbar, wenn man in jedem Punkt der Welt seinen - nicht systematisch-logisch vermittelten - unmittelbaren Bezug auf das Ziel darstellt. Man stellt also jeden Gedanken, jede Vorstellung und jedes Ereignis in seinem Bezug zum Ziel dar - und dies mag dann eben als Abschweifung erscheinen. Die paradigmatische, literarische Form solch einer Abschweifung ist der Aphorismus: Verschiedene kurze Betrachtungen aus "Einem Geiste", in Bezug auf eine einheitliche Perspektive.
Wenn der Bezugspunkt das Neue Äon ist, dann könnten eine Reihe kurzer Betrachtungen der verschiedensten Phänomene in Bezug auf das Neue Äon vorgenommen werden. Der Bezugspunkt wird aber nicht in jedem Aphorismus genannt, er erscheint vielleicht in der Überschrift, so daß jeder einzelne Aphorismus wie eine Abschweifung erscheint. In der Menge dieser Abschweifungen zeigen sich Muster: Herz-Ordnungen. Diese Herz-Ordnungen sind nicht logisch-empirisch zu beweisen, sie appellieren an die Lebenserfahrung, die Intuition und das Einfühlungsvermögen des Betrachters: eben - an sein Herz!
Ein Beispiel für Herz-Ordnungen sind die Mythen der Zukunft. Wie soll man solch einen Mythos logisch-empirisch beweisen? Mythen beweisen? Was man beweisen kann, das ist kein Mythos mehr. Herz-Ordnungen sind Lebensformen, die nicht wissenschaftlich sind - aber sie machen uns glücklich und geben unserem Leben Sinn!
Wir haben bisher die Zukunft und die Gegenwart betrachtet und verstanden, wie diese beiden in unerwartetem Sinne untrennbar sind: In der Gegenart dichten wir den Mythos der Zukunft und diese Zukunft gibt der Gegenwart die Regeln. Was aber ist ... mit der Vergangenheit?
Ich möchte dazu einen Aphorismus Nietzsches zitieren. Überschrieben mit "Historia abscondita":
"Jeder große Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Waage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln - hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!"
Wir sehen, eine weitere Ungeheuerlichkeit. Die Zukunft wirkt nicht nur auf die Gegenwart, nein, sie wirkt auch auf die Vergangenheit zurück. Nicht nur die Zukunft, nein, auch die Vergangenheit ist ein Komplex noch unentdeckter Möglichkeiten, es gibt also eine zukünftige Vergangenheit, die von der gegenwärtigen Vergangenheit verschieden ist. Ein neuer Mythos der Zukunft kann so mächtig sein, daß in die Zukunft, die er erdichtet, die in der Vergangenheit verborgene Zukunft einströmt.
Wir werden ganz neue Seiten an der Vergangenheit entdecken.
Um das anschaulicher zu machen, sei an Darwin erinnert. Als Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte, hatte die Menschheit schlagartig eine völlig veränderte Vergangenheit. Nicht der Schöpfer-Gott hatte den Menschen aus Lehm geformt, sondern das Konzert von Mutation und Selektion hat den Menschen hervorgebracht, schlagartig waren Affen, Fische und Würmer Verwandte des Menschen.
In einem letzten Zitat möchte ich nun all diese Erkenntnisse zu einem Finale zusammenführen. In dem folgenden Aphorismus hat Nietzsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem dröhnenden Akkord zusammengeschmiedet (Zeilenfall und Absätze von MDE):
"... wer die Geschichte der Menschen insgesamt als eigene Geschichte zu fühlen weiß,
der empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung
allen jenen Gram des Kranken, der an die Gesundheit,
des Greises, der an den Jugendtraum denkt,
des Liebenden, der der Geliebten beraubt wird,
des Märtyrers, dem sein Ideal zugrunde geht,
des Helden am Abend der Schlacht,
welche Nichts entschieden hat und doch ihm Wunden und den Verlust des Freundes brachte -:
aber diese ungeheure Summe von Gram aller Art tragen,
ertragen können und nun doch noch der Held sein,
der beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die Morgenröthe und sein Glück begrüßt,
als der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden
vor sich und hinter sich,
als der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes
und der verpflichtete Erbe,
als der adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels,
dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte:
dies alles auf seine Seele nehmen,
Ältestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Menschheit:
dies alles endlich in Einer Seele haben und in ein Gefühl zusammendrängen: -
diess müßte doch ein Glück ergeben,
das bisher der Mensch noch nicht kannte, -
eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens,
ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend,
fortwährend von seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt
und hinaus ins Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt,
wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert!
Dieses göttliche Gefühl hieße dann - Menschlichkeit!"