"Eine Entscheidung,
die sich nicht der Prüfung des Unentscheidbaren unterziehen würde,
wäre keine freie Entscheidung,
sie wäre eine
programmierbare Anwendung oder ein berechenbares Vorgehen."
(Jacques Derrida, "Gesetzeskraft – Der mystische Grund der Autorität",
Frankfurt 1996, S 49 f.)
Was ist ein Paradox?
Streng genommen ist das Paradox ein performativer Widerspruch, d. h. Widersprüchlichkeit als Folge der Negation von Selbstbezüglichkeit: wenn eine auf sich selbst anwendbare Aussage negiert wird. Im weiteren Sinne nennt man Paradox einen Sachverhalt, der mit seinem Gegenteil identisch ist. Wir benutzen Paradox hier als umfassende Bezeichnung für jede Art von Widerprüchlichkeit.
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Paradoxien können nicht mit Seinsbegriffen, nur mit Reflexionsbegriffen formuliert werden.
Beispiel: Wer die Röte einer roten Rose "grün" nennt, sagt nichts Widersprüchliches, sondern beherrscht die deutsche Sprache nicht.
Gegenmittel: Darauf hinweisen, wie man eine bestimmte Sinneswahrnehmung in einer Sprache richtig bezeichnet. -
Paradoxien können durch vage Formulierungen entstehen.
Beispiel: Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren.
Gegenmittel: präziser formulieren. Was genau wird da gewonnen oder verloren? -
Paradoxien können durch Vollkommenheitsbedingungen entstehen.
Beispiel: Das Allmächtigkeits-Paradoxon, kann ein allmächtiger Gott einen Stein erschaffen, den er selbst nicht heben kann?
Oder: Nichts ist absolut!
Gegenmittel: Vollkommenheitsbedingungen wegen Unerfüllbarkeit bzw. Fiktionalität (sie sind gewöhnlich in sich schon widersprüchlich) ablehnen.
Wenn ausreichend präzise formuliert und keine Vollkommenheitsbedingungen impliziert sind, können dennoch Paradoxien entstehen: Wenn man nicht genau genug beobachtet, um die Werte in der Zeit-, Sozial- oder Sachdimension verorten zu können oder dies jedenfalls nicht tut.
Begriffsklärungen
In den folgenden Überlegungen werde ich einige Konzepte verwenden, die hier kurz charakterisiert werden:
- Beobachtung 1. Ordnung: Identitäten, Gegenstände, Zeichen und Bezeichnetes sind eins, magisches Denken, Identitäten können nicht stabilisiert werden. Ein Spiel mit nur temporär stabilen Spielregeln, die jederzeit verändert werden können (Kinder spielen so)
- Beobachtung 2. Ordnung: Kontrolle des Identitätsgebrauchs, Unterschiede, Relationen, Zeichen und Bezeichnetes können unterschieden werden, hängen aber fest zusammen, zweiwertige Logik (A=A), monotheistische Götter, durch welche der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem (Wahrheit) gesichert wird. Spiel und Spielregeln werden unterschieden, die Spielregeln bleiben stabil.
- Beobachtung 3. Ordnung: Der Beobachter tritt auf, Kontrolle des Gebrauchs von Unterscheidungen, Kontingenz, Relativismus, Logik der Eigenwerte, Selbstreferenz. Spiel und Spielregeln werden unterschieden, aber die Spieler erkennen, daß sie selbst die Spielregeln machen.
- Kontextur: eine logische Domäne (Mensch, System, Theorie, etc.), in der strikt die zweiwertige Logik gilt.
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Logischer Ort (Standpunkt): der Ort einer Kontextur in den Sinndimensionen.
- Sozialdimension: Ich-Du, Konsens-Dissens, Person-Rolle.
- Zeitdimension: vorher-nachher, reversibel-irreversibel, variabel-konstant.
- Raum- oder Sachdimension: hier-dort; dies-anderes, innen-außen.
- Polykontextur: mehrere Kontexturen an verschiedenen logischen Orten.
- Universalkontextur: eine Kontextur, die gleichzeitig an allen logischen Orten gilt. Universalkontexturen haben keinen Ort, weder zeitlich, noch sozial, noch sachlich, sie sind folglich sinnfrei (sinnloser Sinn).
Entparadoxierung
Paradoxien können entstehen, wenn Kontexturen verschiedener logischer Orte auf einen Universal-Ort , d.h. in die Ortlosigkeit einer Universalkontextur, eingeschmolzen werden, z. B. Gleichzeitigsetzung von Ungleichzeitigkeiten. Die Folge der Ortlosigkeit ist, daß alle drei Sinndimensionen getilgt sind. Deshalb kann in allen drei Sinndimensionen entparadoxiert werden, denn die logischen Werte können auf verschiedene logische Orte verteilt werden.
Entparadoxieren geschieht also durch Einführung von Sinn (sinnvoller Sinn), durch Sinn-Selektion: Verteilung auf logische Orte. Ein Paradox ist ein Sinngenerator, nicht ein Problem, sondern eine Provokation zum Generieren von Sinn . Da es kein Verfahren dafür gibt, kann man von Kreativität sprechen: kreative Sinngeneration ist die Logik der Entparadoxierung oder der Beobachtung 3. Ordnung.
Wenn man logische Orte auf eine Universalkontextur einschmilzt, kann man danach aus dem entstandenen Paradox Neuverteilungen der Werte auf logische Orte kreieren.
- In der Zeitdimension kann man, wie es in Spencer-Browns "Laws of Form" vorgeführt wird, jedes Paradox auflösen. Jeder Moment ist eine Kontextur, jede Dauer deshalb polykontextural - und alles was sich ereignet, ereignet sich in der Zeit.
- In der Sozialdimension kann man jedes Paradox auflösen. Jedes psychische System ist eine Kontextur, jedes soziale System deshalb polykontextural - und alles was kommuniziert wird, wird in sozialen Systemen kommuniziert, auch Paradoxa.
- Bei der Sachdimension bin ich mir unsicher. Kann jedes Paradox durch räumliche oder dingliche Verortung aufgelöst werden? Zumindest auf der Mikroebene (Elementarteilchen, Quantenphysik) scheint es Ausnahmen zu geben.
Paradox: Olaf ist alt und jung (nicht-alt).
Entparadoxierung in der Sozialdimension (Du, in sozialen Systemen gibt es nur Du's: Personen):
- Anton, 10 Jahre alt. Olaf, 30 Jahre alt. Egon, 70 Jahre alt.
- Anton sagt: Olaf ist alt
- Egon sagt: Olaf ist Jung.
- Entparadoxiert: Relativ zu Anton (logischer Ort) ist Olaf alt, relativ zu Egon (logischer Ort) ist Olaf jung.
Entparadoxierung in der Zeitdimension (Ich, Bewußtsein):
- Entparadoxiert: Im Jahre 1910 (logischer Ort) war Olaf 10 Jahre jung, im Jahre 1950 (logischer Ort) war Olaf 40 Jahre alt.
Entparadoxierung in der Sachdimension (Es):
- Entparadoxiert: In einem Altersheim (logischer Ort) ist Olaf jung, in einem Kindergarten (logischer Ort) ist Olaf alt.
Aus zwei wird drei
Der Philosoph, Logiker und Kybernetiker Gotthard Günther (* 15. Juni 1900 in Arnsdorf, Schlesien; † 29. November 1984 in Hamburg) entwickelte die oben schon eingeführte polykontexturale Logik. Seine Motivation dafür war:
"Was ist der Mechanismus, der den Schein produziert, der unser Denken immer wieder irritiert? und zwar in einer Art des Betrugs, der „unhintertreiblich“ ist, wie Kant wörtlich sagt. Der Schein entsteht, wenn ich über das Subjekt rede, denn ich kann nicht anders über das Subjekt reden, als dass ich es als Gegenstand nehme, dass heißt indem es Objekt für mich wird, und damit nicht mehr das ist, was es ist. Das Reden, Urteilen über ein Subjekt verkehrt es in sein Gegenteil. Selbst wenn ich diesen Schein für mich aufgedeckt habe, unterliege ich ihm weiter, kann nicht heraus aus ihm." (Claus Baldus, Gotthard Günther: Phaidros und das Segelflugzeug: Von der Architektonik der Vernunft zur technischen Utopie, Aus Gesprächen mit Gotthard Günther)
Zur Bedeutung von Günthers Arbeit sagt der deutsche Philosoph, Kulturwissenschaftler und Essayist Peter Sloterdijk (* 26. Juni 1947 in Karlsruhe):
"Ich habe in den letzten Jahren mein zweites Studium von Gotthard Günthers philosophischem Werk begonnen. Seither stehe ich unter dem Eindruck, dass es für die Kultur im ganzen und für die wissenschaftlichen Subkulturen im besonderen darauf ankommt, die Revolution der mehrwertigen Logik voranzutreiben, die Gotthard Günther skizziert hat. In meinen Augen hat Günther damit die Logik des nachmetaphysischen Zeitalters umrissen und gezeigt, wie man den ideologischen Bastarden entgeht, die sich seit dem 19. Jahrhundert an die Stelle der Metaphysik gesetzt hatten, diesen grauenvollen halbwissenschaftlichen Meinungssystemen, die der Fusion von tierischem Ernst und humanistisch verbrämter Gewalt Vorschub geleistet haben wie nichts zuvor in der Geschichte von Ideen. Die mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts sind aus der Günther-Perspektive nichts anderes als krampfhafte Endspiele der Zweiwertigkeit, militante Verweigerungen des Komplexitätsdenkens, das sich schon in so vielen Formen ankündigt." (Peter Sloterdijk & Hans-Jürgen Heinrichs: Amphibische Anthropologie und informelles Denken, Gelassenheit und Mehrwertigkeit, in: Peter Sloterdijk, Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, Dialogische Untersuchungen, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2001, S. 351 ff.)
Gotthard Günther hat den Subjekt-Objekt Dualismus zu einer Triade erweitert: Das Ich bleibt Subjekt, das Es (Dinge) bleibt Objekt und das Du kommt als subjektives Objekt hinzu. |
Das wird vielleicht deutlicher, wenn es in einer Tabelle dargestellt wird:
Subjekt Objekt |
Subjekt | Objekt |
---|---|---|
Subjekt | Ich | Du |
Objekt | Es für Du | Es für Ich |
- Subjektives Subjekt: Ich
- Objektives Subjekt: Du
- Objektives Objekt: Es für Ich (Dinge aus der Sicht des Ich, Wahrnehmungen des Ich)
- Subjektives Objekt: Es für Du (Dinge aus der Sicht des Du, Wahnehmungen des Du)
Das subjektive Subjekt (Ich) hat objektive Objekte (Sein, Wahrheit, Realität), das objektive Subjekt (Du) hat subjektive Objekte (Schein, Irrtum, Konstruktion). Daraus folgt, daß das Ich immer objektiv wahrnimmt (was sonst?) und der subjektive Irrtum (Abweichungen von der Wahrnehmung des Ich) auf der Seite des Du ist.
Entparadoxierung von Selbstreferenz
Wenn eine Aussage wahr und falsch ist, ist sie entweder paradox oder sie muß auf verschiedene logische Orte, z. B. Personen, Systeme, verteilt werden, deren jeder einen eindeutigen logischen Wert vertritt. Wenn die logischen Orte Personen sind, tritt das Paradox im sozialen System auf, aber nicht als Paradox, sondern als verschiedene Beobachtungen, Perspektiven oder Meinungen. Menschen entparadoxieren sich durch logische Orte, z.B. in der Kommunikation. Realität ist das, was in einem System unbestritten ist und zur Auflösung sozialer Paradoxa gibt es entweder akzeptierte Methoden (z.B. Argumentation, Gewalt) oder das soziale System wird sich auflösen bzw. Personen werden sich andere soziale Systeme suchen.
Unterscheiden wir Ich-System (System), Du-System (System in der Umwelt) und Es (Objekte in der Umwelt, natürlich Ich-Es und Du-Es), können die Systeme sowohl psychische als auch soziale Systeme sein. Das soziale Ich-System ist das System in dem ein psychisches Ich-System zum Zeitpunkt der Beobachtung kommuniziert (an die Kommunikation angekoppelt ist).
- In der Beobachtung 1. Ordnung sind die Selbstbeschreibungen eines Systems fraglose Gegebenheiten.
- In der Beobachtung 2. Ordnung sind die Selbstbeschreibungen eines Systems wahr oder falsch.
- In der Beobachtung 3. Ordnung sind die Selbstbeschreibungen eines Systems Beschreibungen eines subjektiven Subjekts (Ich), welches sich als objektives Subjekt (Du) beobachtet.
Damit ist die (scheinbare) Paradoxie der Selbstreferenz aber schon auf zwei logische Orte verteilt. Was an dem einen Ort (Ich, real) Grund ist, ist an dem anderen Ort (Du, konstruiert) Begründetes und in der Zeit - man beobachtet immer rückwärts (Vergangenes) - entfaltet. Das Ich ist immer der Beobachter, das Du ist, auch wenn Ich es bin, beobachtetes. Paradoxa treten nur zeitlos auf, also in der klassischen Logik, aber das Leben ist nie zeitlos, immer Operation.
Subjektivität wie Realität ist über Orte (Beobachter) verschmiert (distribuiert). Der 'Mensch' ist nicht Zentrum oder Grund, sondern ein beobachteter Beobachter (eine als Beobachter beobachtete Beobachtung), der darauf angewiesen ist, sich stets neu und anders aus den Beobachtungen die ihn beobachten zu beobachten.
Somit ist aus dem alteuropäischen souveränen Beobachter selbst eine Beobachtung geworden, die der Beobachter als eine Selbstbeobachtung nur insoweit machen kann, als er die Beobachtungsvorschrift im Außen seiner selbst findet: den Beobachtungen die er als ihn beobachtend beobachtet. Die Innenperspektive ist die Außenperspektive - und umgekehrt. Die Gegenwart der Welt ist nur in der Beobachtung zu entdecken. Ich erschaffe die Welt (als Horizont) durch meine Beobachtung und die Welt der Beobachter erschafft mich durch ihre Beobachtung. Ich (Beobachter) bin in der Welt (Beobachtung) und die Welt (Beobachtung) ist in mir (Beobachter). Das ist deshalb nicht paradox, weil die verschiedenen Positionen über Ich-Du-Orte distribuiert sind.
Beobachtung des bodenlosen Selbst
Das Selbst ist die Einheit von Ich-Du-Es. Nicht: Ich habe mein Selbst. Sondern: Ich bin (mein) Selbst. Was man nicht hat, kann man nicht verlieren. Keine Veränderung kann etwas daran ändern, daß ich ein Selbst bin. Weil Zeit Veränderung ist und wir nur in der Zeit leben können ist Veränderung nichts äußerliches, sondern genau das was wir selbst sind. Wenn wir sind, sind wir Veränderung, ohne Veränderung sind wir: Tot.
Im Moment einer Entscheidung erleben (denken) wir nicht und handeln (wollen) wir nicht, sondern wir entscheiden. Das Wesen der Entscheidung ist also ihre Grundlosigkeit - und das ist unsere eigene Grundlosigkeit, die Grundlosigkeit des Beobachters. Sie ist sowohl handeln des Handelns als auch denken des Denkens. Natürlich geht informieren und wollen der Entscheidung voraus, aber dann entscheiden wir nicht: Jetzt entscheide ich. Nicht ich entscheide mich, sondern es findet eine Entscheidung statt. Es kommt also nur darauf an, dieses 'statt' stattfinden zu lassen.
Entscheidung ist die einzige Möglichkeit, die Art der Veränderung die wir sind zu orientieren (eine Richtung geben), ansonsten verändert uns eben die Welt. Das Ich hält sich für eine fixe Größe, es ist etwas, das wir zu haben meinen. Das Selbst ist das was ich bin: Veränderung. Das Selbst ist das, was ich zu tun fähig bin und das, was ich tue. Das ist kein Zustand, sondern ein Prozeß der Veränderung: Werden. Wenn das Werden des Selbst beendet ist, ist das Leben beendet, auch wenn es biologisch noch weitergehen mag. Daraus folgt:
Zu je mehr ich fähig bin und je mehr ich tue,
desto mehr selbst werde ich.
Dieser Werdensprozeß des Selbst kann weder im Innen noch im Außen des Selbst einen Grund finden, denn das Gründen ist nur als 'unterwegssein', als auf dem Weg sein, der Grund ist nur als immerwährende Gründung. Deshalb kann das Selbst nicht Produkt einer autonomen Selbsterschaffung sein, sondern immer nur ein Werden in der triadischen Verwebung von Ich-Du-Es. Das Ich kann das Selbst nicht in den Blick bekommen, weil es nicht die vollständige Triade sieht. Das Selbst, das sich erschaffen (verändern, verwirklichen) will, kann das nur, wenn es die Welt (Es) und die anderen (Du) miterschafft (verändert, verwirklicht). Das Selbst kann sich nicht von sich selbst her denken - ansonsten es Ich wäre.
Vom Ich zum Selbst:
Die Angst ins Bodenlose zu fallen
überrascht sich mit der Erkenntnis,
schon immer geschwebt zu sein.
Fallen ist unmöglich,
denn Fallen setzt einen Grund (Boden) voraus.
Das läuft aber nicht auf Beliebigkeit hinaus, sondern auf eine Interdependenz von Freiheit (Anything goes) und Notwendigkeit (Fundamentalismus). Verändere, was Du verändern kannst, akzeptiere, was Du nicht verändern kannst - und werde weise genug, dies korrekt zu unterscheiden. Es gibt keine vorgegebene Ordnung. Du selbst - als Selbst - bist die lebendige, immer im Fluß befindliche, Ordnung von Ich-Du-Es und somit Teil der universalen, aber distribuierten, kosmischen Ordnung, die sich daraus ergibt: Ma'at, das Gesetz. Das ist die Logik der Beobachtung 3. Ordnung.
Beobachtung des Bodenlosen im Gespräch
Eine praktische Anwendung der bisherigen Überlegungen können wir im Gespräch finden. Wenn zwei Menschen sich unterhalten sind zwei Beobachter und zwei Beobachtete anwesend: die Vierbeiden. Sie müssen sich selbst und wechselseitig als Beobachter und Beobachtetes permanent gründen, um damit permanent das Gespräch zu gründen, durch welches sie sich selbst und wechselseitig gründen.
So werden sie, was sie sind, so wird das Gespräch, was es ist. Es gibt weder das eine noch das andere ohne das eine durch das andere. Jedes Gespräch muß sich als ursprunglosen Ursprung ständig neu gründen. Beide Seiten sind immer im Werden als gegenseitige Erschließung und Ermöglichung. Nur im Gehen entsteht der Weg - und im Weitergehen vergeht der Weg. Wenn wir auf unsere Füße schauen, sehen wir den Weg als Grund. Schauen wir vorwärts oder rückwärts sehen wir nur verwehte Spuren im Abgrund.
Obwohl bodenlos ist das Gespräch dennoch nicht willkürlich. Jedes neu entstehende Wegstück (Grund, Boden) schließt an das soeben vergehende Wegstück an, das neue Wegstück muß anschlußfähig sein, sonst ist das Gespräch beendet.
Wenn wir nun berücksichtigen, daß auch hier, wie überall, die Triade Ich-Du-Es anwesend ist, dann sehen wir, daß nicht Vierbeide, sondern Sechsbeide im Gespräch sind.
- Ich beobachte mich.
- Ich beobachte Dich.
- Ich beobachte Es.
Du tust das auch, das sind sechs Beobachtungen von zwei Beobachtern. Aufmerksame Beobachter beobachten noch mehr:
- Ich beobachte, wie ich mich beobachte.
- Ich beobachte, wie Du mich beobachtest.
- Ich beobachte, wie Du Dich beobachtest.
- Ich beobachte, wie Du Es beobachtest.
- usw.
Durch diese ineinander verwobenen Beobachtungen hat sich jedes Gespräch, als stets im Vollzug befindliches Werden, jeder Möglichkeit der Steuerung durch einen Beobachter, immer schon entzogen. Wer versucht, ein Gespräch zu lenken (stell Dir Feilschen auf dem Basar vor), wird eben genau dabei beobachtet: aha, das will er also von mir.
Der, der manipuliert werden sollte, entscheidet dann, wie er darauf reagiert: Mitmachen, ablehnen, Widerstand leisten, so tun als ob, ausweichen, etc. Wer versucht zu lenken, wird gegengelenkt. Das wieder kann der Manipulator gegenbeobachten und seinen nächsten Zug planen. Man lenkt und wird gelenkt, beides zusammen ergibt den Weg. Die Gesprächspartner ermöglichen sich, was immer sie auch sagen, gegenseitig den Weg, den sie gehen.
Wenn es nicht möglich ist ein Gespräch zu steuern, dann ist nicht möglich, einem Gespräch einen festen Zielzustand oder ein Ergebnis vorzugeben. Man kann das zwar versuchen, aber das Gespräch wird sein eigenes Ziel schaffen und anschweben. Das Ziel eines Gesprächs ist selbst Produkt des Gesprächs. Ohne ein Ziel des Gesprächs kann es auch keine Methoden geben, ein Ziel zu erreichen: kein Zweck, keine Mittel. Was zählt ist nur Anschlußfähigkeit, das, was uns gemeinsam das nächste Wegstück erschreiten läßt.
Das Gespräch kann sich nicht an einem Wohin ausrichten,
sondern nur in einem Was-nun einrichten.