Denken lernen

"In das, was Denken heißt, gelangen wir, wenn wir selber denken.
Damit ein solcher Versuch glückt, müssen wir bereit sein,
das Denken zu lernen.
Sobald wir uns auf dieses Lernen einlassen,
haben wir auch schon zugestanden,
daß wir das Denken noch nicht vermögen...
Denn wir vermögen nur das, was wir mögen."

Heidegger, Was heißt Denken

Wir haben jetzt eine erste Vorstellung vom lethischen Denken. Ist das so? Wir haben eine erste Vorstellung vom Lethischen, aber wissen wir was Denken ist? Wissen wir wie gedacht wird?

Es gibt zwei Arten des Denkens, das aktiv Entwerfende und das passiv Geschickte. Dann gibt es noch das Rechnen - was manche nicht nur für Denken, sondern sogar für die einzige Art des Denkens halten. Rechnen ist nicht Denken, denn Denken ist keine formale Operation.

Wenn wir denken wollen, "müssen wir bereit sein, das Denken zu lernen."

Kentnnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten

Denken ist eine Verhaltensweise zu welcher der Mensch prinzipiell fähig ist. Hat aber jeder Mensch, neben der Fähigkeit, auch die zum praktischen Ausüben der Denkfähigkeit nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten?

  • Kenntnisse: theoretisches Wissen, erklären können wie es geht.
  • Fähigkeiten: keine organischen Hindernisse, wenn Kenntnisse und Fertigkeiten gegeben sind, kann es getan werden.
  • Fertigkeiten: praktisches Handlungswissen, eine Tätigkeit ausführen können, z. B. Fingerfertigkeit.

Beispiel:

Stellen wir uns vor, daß ein Mensch das Autofahren erlernen will.

  • Fähigkeit: Gegeben sei, daß er normal intelligent ist und alle seine Organe und Gliedmaßen störungsfrei funktionieren. Dies vorausgesetzt, hat er die Fähigkeit ein Auto zu fahren.
  • Erst die Theorie: Er könnte nun damit anfangen, Kenntnisse des Autofahrens zu erwerben, z.B. indem er Bücher darüber liest, wie man ein Auto bedienen muß, um es zu fahren. Oder er könnte einen Fachmann fragen. Danach weiß er, daß man lenken, Gas geben, bremsen, Gänge einlegen muß und wie man das - theoretisch - tut. Was wird geschehen, wenn er sich mit diesen theoretischen Kenntnissen in ein Auto setzt? Es wird im besten Fall ein fürchterlich ruckliges und schlangenliniges Gefahre werden. Aber je länger er übt, desto besser werden seine Fertigkeiten werden - und eines Tages wird er sicher fahren können.
  • Erst die Praxis: Andererseits könnte er sagen, was soll ich mit Theorie? Schließlich will ich praktisch fahren, brauche also die Fertigkeit fahren zu können. Er setzt sich also in ein Auto und probiert, dieses bockige Ding in Gang zu setzen. Die Wahrscheinlichkeit, daß er z.B. das Getriebe kaputt macht oder mit einem Satz an einer Wand landet oder gar nichts geschieht, weil das Auto kein Benzin hat, ist viel größer als hätte er erst die Theorie gelernt.
  • Theorie und Praxis: Das intelligenteste Verhalten wäre, sich einen Fahrlehrer zu suchen, der Theorie und Praxis parallel und aufeinander abgestimmt vermittelt. Der Fahrlehrer würde mit Theorie beginnen. Er würde sich mit dem Lernenden zusammen in das Auto setzen, ihm die verschiedenen Bedienelemente  erklären - und ihn erst dann die ersten Fahrversuche machen lassen. Der intelligenteste Weg beginnt immer mit ein wenig Theorie, dann ein wenig Praxis, dann wieder etwas Theorie, um den nächsten Praxisschritt vorzubereiten.

Rechnen - die Bedingung der Möglichkeit des Denkens

Rechnen meint hier nicht nur die Operationen, die wir in der Schule im Mathematikunterricht gelernt haben. Rechnen meint jedes formale Operieren mit Operanden: 2 + 2 = 4. In diesem Beispiel sind die Zahlen Operanden und das Additions- und das Gleichheitszeichen sind Operatoren. Die Operatoren sagen uns, was wir mit den Operanden machen sollen.

Formal heißt dieses Operieren, weil es eine feste Form hat, weil man die Regeln nur korrekt nachvollziehen braucht, um zum richtigen Ergebnis zu kommen. Deswegen sind Computer bessere Rechner als Menschen, Rechnen kann, weil es festen Regeln folgt,  automatisiert werden.

Wir rechnen, um beim Bäcker die Brötchen zu bezahlen und es muß gerechnet werden, wenn z.B. eine Brücke oder ein Haus gebaut werden soll - denn sonst werden diese entweder nicht lange halten oder nicht einmal an den Ort passen, an dem sie stehen sollen. Natürlich, da reicht das Rechnen allein nicht, man muß auch messen, z.B. dürfen die Innenräume des Hauses nicht größer sein als der Grundriß und die Brücke darf nicht kürzer sein als der Fluß den sie überbrückt.

Messen und Rechnen gehören zusammen. Nur mit gemessenen Werten kann man rechnen - ah, Werte ... also Rechnen, Messen und Werte. Nur durch Messen entstehen Werte und Werte sind die Operanden für das Rechnen. Werte sind Quantitäten (gezähltes), denn nur mit Quantitäten kann man rechnen.

Das ist soweit völlig in Ordnung und damit haben wir, so ganz nebenbei, das Prinzip der Wissenschaft und der Technik entdeckt: Beide beruhen auf dem Messen von  Werten und dem Rechnen mit Werten.

Rechnen ist eine extrem wichtige Fertigkeit,
denn durch das strikte Regelbefolgen lernen wir
unsere Gedanken zu beherrschen.

Die Fertigkeit Regeln befolgen zu können, wie sie besonders in Mathematik und  Logik gefordert wird, ist die erste Stufe auf dem Weg zum Denken. Wer nicht rechnen kann, wird niemals denken können, denn er kann seine Gedanken nicht lenken - diese gehen einfach ihre eigenen Wege. Wer rechnen kann, hat gelernt: bei der Sache zu bleiben.

Wie kann man rechnen lernen? Durch das Studium von Mathematik und Logik - am besten vielleicht durch Programmieren.

Woran erkennt man Menschen, die ihre Gedanken nicht beherrschen (nicht rechnen können)? Sie springen von einem Gedanken zum anderen, ohne einen Gedankengang zu Ende zu führen, sie sind unzuverlässig, vergeßlich - und nennen sich selbst: spontan! Diese Spontaneität ist  aber nichts anderes als eine Mischung aus Trieb und Zufall.

Das ist die positive Seite des Rechnens. Die negative Seite ist die Habgier.

Beispiel:

  • Wenn wir z.B. einem Menschen unser Vertrauen schenken, wägen wir seine Vertrauenswürdigkeit ab. Wir wägen ab, ob er vertrauenswürdig genug ist, um unser Vertrauen zu verdienen. Wir wägen ab, abwägen ist Rechnen. Wir bewerten, d.h. messen, die Vertrauenswürdigkeit eines Menschen und verrechnen diesen Wert mit  unserem Anspruch an Vertrauenswürdigkeit: Mein Anspruchswert abzüglich des Vertrauenswertes des anderen Menschen. Ist das Ergebnis positiv, schenken wir Vertrauen. Ist das so? Nein, wir schenken überhaupt nichts: der andere hat sich, durch sein Verhalten, unser Vertrauen erkauft.
  • Die Geschichte geht weiter. Warum lassen wir den Anderen unser Vertrauen kaufen? Wie der Soziologe Niklas Luhmann in seinem berühmten Büchlein "Vertrauen" feststellt, ist Vertrauen ein "Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität", d.h. das Leben ist einfacher, wenn wir uns auf bestimmte Verhaltensweisen des Anderen verlassen können. Wenn wir jemandem unser Vertrauen verkaufen, dann erwarten wir, daß er sich als vertrauenswürdig erweist, d.h. er hat sich gefälligst so zu verhalten wie wir es, als Voraussetzung unseres Vertrauens, festlegen. Natürlich gilt das auch umgekehrt.
  • Unser Vertrauen macht den Anderen zum Sklaven - und wir machen uns zum Sklaven des Anderen.
  • Was haben wir davon? Das Leben wird einfacher! Ein, wenn man ein einfacheres Leben will, gutes Geschäft. Komplexitätsreduktion ist Simplifizierung und Trivialisierung, Einschränkung von Vielfalt - in diesem Fall: Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten. Das Geschäft lautet also: Ich trivialisiere mich, Du trivialisierst  dich - das ist uns beiden etwas wert also können wir es gegeneinander verrechnen.
  • Bei solchen Rechnungen muß man natürlich aufpassen, daß man nicht übervorteilt  wird. Es muß ein gutes Geschäft sein, vielleicht mit einem kleinen Risikobonus - und schon stecken wir mitten in der Habgier. Natürlich nennt dieses Rechnen heute niemand mehr Habgier, es ist selbstverständlich. 

In einer Gesellschaft die auf Werten basiert wird gerechnet.
Etwas anderes als Rechnen, kann man mit Werten nicht machen.
Rechnen ist, wo Menschen als Menschen betroffen sind,
Habgier.

Beim Bezahlen des Einkaufs wird genauso gerechnet wie in der Wissenschaft. Freundschaft wird ebenso errechnet wie Feindschaft, Sex genauso wie Liebe - und auch Kinderkriegen ist nur ein Rechenexempel: Wieviel Kindergeld bekommen wir? Mit welchen Einnahmeausfällen und Karriereeinschränkungen müssen wir ... äh ... rechnen. Bevor wir es vergessen: Terroristen rechnen genauso wie Antiterroristen. Die Währung sind Menschenleben.

Der Mensch wird zum verrechneten Wert, nicht erst für Terroristen, sondern in unserem stinknormalen Alltag - und spätestens hier stellt sich die Frage: Ist das Errechnete wirklich alles am Menschen?

Die Gegenposition lautet: Der Wert des Menschen ist unendlich groß. Warum? Egal wieviel von einem unendlichen Wert abgezogen oder hinzugezählt wird, er verändert sich nicht, wird weder mehr noch weniger. Das bedeutet:

Ein einzelner Mensch
hat genausoviel Wert
wie sieben Millionen Menschen.
Punkt!

Nur ein Mensch dessen Wert unendlich ist hat Menschenwürde. Setzen wir also Wert,  mit dem nur gerechnet werden kann, gegen Würde, mit der nicht gerechnet werden kann.

Wenn der Mensch Würde hat, kann er nicht mehr verrechnet werden. Wenn wir nicht mehr rechnen können, müssen wir denken.

Wenn man über die vorhergehende Argumentation ernsthaft nachdenkt, stellt man schnell fest: Da gibt es praktische Unmöglichkeiten - also Denkaufgaben ;-)

Tipp: Neben Habgier gibt es auch noch Win-Win - und das bedeutet: Rechnen.

Wir beginnen denken zu lernen

Starten wir wie der Fahrlehrer mit dem Fahrschüler im Auto mit einer Mischung aus Erklären und Tun. Beachte, daß du, wenn Du die folgende Übung nicht durchführst, nur Kenntnisse (Theorie) erwirbst, jedoch keine Fertigkeiten (Praxis).

  1. Suche Dir eine Frage die dich interessiert und schreibe sie auf ein Blatt Papier. Falls Du dich an einem Problem versuchen  willst, vergiß das Problem, formuliere es als Frage. Stelle keine geschlossene Frage, d.h. eine Frage die einen eingegrenzten Antwortraum, z.B. eingeschränkt auf "ja" oder "nein", hat. Stelle eine offene Frage, d.h. eine Frage deren mögliche Antworten (Antwortraum) Du nicht kennst. Man kann jede geschlosse Frage in eine offene Frage umwandeln. Beispiel:
    Geschlossene Frage: Ist Thelema für mich das Richtige?
    Offene Frage: Was erwarte ich von den nächsten zehn Jahren meines Lebens?
  2. Ziehe einen waagerechten Strich hinter deinem letzten Satz und schreibe eine Überschrift: "Alles was mir zu der Frage einfällt".  Schreibe alles auf, was Dir zu dieser Frage einfällt, alles was Du zu dieser Frage sagen möchtest, alles was Dir daran gefällt oder mißfällt - einfach: alles!
  3. Ziehe einen waagerechten Strich hinter deinem letzten Satz und schreibe eine Überschrift: "Tatsachen". Schreibe alle Sachinformationen auf, die Dir zu dieser Frage einfallen. Wenn Du meinst, daß Du mehr Sachinformationen benötigst, beschaffe sie und schreibe sie dazu.
  4. Ziehe einen waagerechten Strich hinter deinem letzten Satz und schreibe eine Überschrift: "Antwortmöglichkeiten". Schreibe alle Antworten auf die Dir einfallen - egal wie abstrus sie sind, es müssen nur mögliche Antworten auf die Frage sein.
  5. Ziehe einen waagerechten Strich hinter deinem letzten Satz und schreibe eine Überschrift: "Meine Meinung". Schreibe deine Meinung zu der Frage auf, d.h. schreibe auf, welche Antworten für dich aus welchen Gründen in Frage kommen und welche aus welchen Gründen nicht in Frage kommen.
  6. Lies deine Gründe durch und trenne sie in Tatsachen und Meinungen. Unterstreiche alle Informationen. Beispiel:
    Meinungen: Es ist zu heiß; Autos stinken; in Deutschland kann man keinen erholsamen Urlaub machen; bei Aldi kann man gut einkaufen; Politiker sind Dummköpfe; Religion ist was für Leichtgläubige.
    Tatsachen: Das Thermometer zeigt 30° an, Autos geben pro Minute 2 Liter Abgase ab; Urlaub in Deutschland ist, bei sonst gleichen Bedingungen, teurer als Urlaub in Jugoslawien; bei Aldi ist die Butter billiger als beim Lebensmittelhändler um die Ecke, usw.
  7. Jetzt lies Dir Dein  Werk durch und bewerte es: Gib Dir eine Note von eins (sehr gut) bis sechs (ungenügend).

Gratuliere, Du hast jetzt alle deine Vorurteile und Selbstverständlichkeiten zu dieser Frage aufgeschrieben - nach allen Regeln der Kunst untersucht und sogar wunderschön strukturiert.

Mit Denken hatte das alles noch nichts zu tun.

Wir führen die Übung noch einmal durch und versuchen erste zaghafte Denkbemühungen einzuführen.

  1. Nimm ein neues Blatt Papier. Wir nennen es Blatt zwei.
  2. Schreibe die Frage auf, die gleiche Frage wie oben unter Punkt eins.
  3. Wiederhole Punkt zwei, aber schreibe nichts auf, was auf dem ersten Blatt steht. Schreibe mindestens genauso viel wie auf dem ersten Blatt.
  4. Verfahre desgleichen mit den Punkten drei und vier.
  5. Laß Dir mindestens eine Woche Zeit. Besprich die Frage mit anderen Menschen, damit Du neue Perspektiven kennenlernst.
  6. Finde zu jeder Tatsache eine Gegentatsache, zu jeder Antwortmöglichkeit eine Gegenantwortmöglichkeit.
  7. Finde mindestens weitere 10 Tatsachen und weitere 10 Antwortmöglichkeiten.
  8. Wiederhole Punkt fünf, aber verwende nur Daten von dem zweiten Blatt. Berücksichtige jede der möglichen Antworten.
  9. Lies deine Gründe durch und suche alle Stellen heraus wo Du gerechnet hast.
  10. Streiche alle Antworten in deren Begründung Du gerechnet hast.
  11. Wiederhole die Schritte 3 bis 10 so oft, bis Du mit deinen Antworten zufrieden bist.
  12. Prüfe deine Antworten daraufhin ob sie die Frage abschließend beantworten oder ob sie neue Fragen aufwerfen.
  13. Streiche alle Antworten, die keine neuen Fragen aufwerfen.
  14. Wiederhole die Schritte 3 bis 13 so oft, bis Du mit deinen Antworten zufrieden bist.
  15. Prüfe deine Antworten daraufhin, ob Du sie ver-antworten kannst.
  16. Streiche alle Antworten, die Du nicht verantworten kannst.
  17. Wiederhole die Schritte 3 bis 16 so oft, bis Du mit Deinen Antworten zufrieden bist.
  18. Was hast Du während dieser Suche gelernt?

Hast Du jetzt gedacht? Ich weiß es nicht, aber es wäre zumindest möglich.

Hast Du die Übung nicht gemacht? Ist sie Dir zu kompliziert oder zu aufwendig? Ok, aber wenn Du wirklich denken lernen willst - geht es nicht weniger aufwendig. Du wirst in jeder Buchhandlung Titel finden, die Dir versprechen: Denken lernen in fünf Minuten. Diese Bücher sind wirklich zeitaufwendig, weil Zeitverschwendung.

Hast Du Fragen zu der obigen Übung? Weißt Du an manchen Stellen nicht genau, wie es gemeint ist? Gut - denke drüber nach :)

 

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